Es ist schon so ein Leid mit dem Heimatbegriff. Würde man die Menschen auf der Straße fragen, so kämen viele unterschiedliche Assoziationen mit diesem auf, denn es liegt in der Natur der Sache, dass mit diesem jeder etwas anderes verbindet. Geht es um eine räumliche Verortung der eigenen Geburt, des Aufwachsens, des ehemaligen oder aktuellen Lebensmittelpunktes? Um die eigene Identität, die gesellschaftlichen Werte, die man mit der Heimat verbindet oder ein politisches System, das vorzuschreiben versucht, wie wir zu leben haben, was wir wertschätzen sollen und welche Bedeutung die Heimat für uns haben soll?
Heimat ist aber auch ein gebeutelter, ein stigmatisierter Begriff, zumindest oder besonders hier in Deutschland aufgrund seiner Zweckentfremdung, die er in unserer dunklen Geschichte des 20. Jahrhunderts erfahren musste. Denn es war gerade der Heimatkult im Dritten Reich, der die Menschen in Goebbels Propagandamaschinerie an das Heimatland band und dieses über alles andere stellte. Und selbst heute, nachdem durch dezidierte Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit die Rehabilitierung fast geglückt erscheint, wird dieser durch nationalistische und rechtsradikale Akteure okkupiert, in dem mäßigen Versuch, sich selbst über andere zu erhöhen, bis hin zur Enteignung der Heimat - nach deren Auffassung minderwertiger - dieser anderen Menschen.
Ein Heimatverständnis, dem man entschieden widersprechen muss, wie dies zum Beispiel Christoph Türcke in Heimat: Eine Rehabilitierung trefflich formuliert: "Heimat, Nationalstaat, Nationalstolz kommen hier vereint daher, als wären sie eine Naturverbindung wie H2O. Zu Stolz berechtigt jedoch nur, was man selbst bewirkt oder zumindest mitbewirkt hat. So mögen die aktiv Beteiligten auf die demokratische Verfassung, die hohen Sozialleistungen oder das kulturelle Niveau in ihrem Staat stolz sein. Ansonsten kann man für die Umgebung, den Landstrich, den Staat, in dem man geboren ist, aufwuchs oder Aufnahme fand, allenfalls dankbar sein" (S.70).
Denn welche Bedeutung Heimat für uns hat, merken wir oft erst, wenn wir diese verlassen müssen. So setzen wir uns erst aktiv mit unserer Heimat in der Fremde auseinander, und erst in jener hermeneutischen Distanz zur Heimat erfahren wir, was wir für diese empfinden. Denn "zuhause ist es eben doch am Schönsten!" Wie schlimm doch für jemanden, der aufgrund von Terror und Gefahr in diese nicht zurückkehren kann. Bereits bei den Schilderungen von Flüchtlingen aus Syrien, dem Balkan oder Afrika wird deutlich, wie sehr sie sich doch nach ihrer Heimat sehnen und auch in der Fremde Assoziationen die Nähe zur Heimat wecken, selbst über große räumliche Distanz.
Auf der Suche nach einer englischen Übersetzung von "Heimat" wird deutlich, wie schwierig hier die Begrifflichkeit und Zuordnung sind: Home, Homeland, Home Country, Spirtual Home, Native Country - die Konkretisierung und Auseinandersetzung birgt nicht unerhebliche sprachliche Schwierigkeiten. Von einer "utopischen Qualität" spricht Bernhard Schlink in seinem Buch Heimat als Utopie und stellt fest: "So sehr Heimat auf Orte bezogen ist, Geburts- und Kindheitsorte, Orte des Glücks, Orte, an denen man lebt, wohnt, arbeitet, Familie und Freunde hat - letztlich hat sie weder einen Ort noch ist sie einer" (S.32).
What the Fuck is Heimat fragte da der erfolgreiche deutsche Pop Art Künstler Stefan Strumbel provokativ in der gleichnamigen Ausstellung in Berlin, in der er Kuckucksuhren, Bambis oder Kuhglocken in quietsch bunten Farben rekontextualisierte, überzeichnete, verfremdete, aber ohne seine Heimat, den Schwarzwald zu vergessen, sondern vielmehr die Werte zu überzeichnen, Bräuche und Traditionen zu negieren, mit deren Verlust zu spielen und ebenso mit der Suche nach dem Neuen. Denn selbst wenn der Heimatbegriff altbacken klingt, so hat er doch für jeden von uns eine Bedeutung, selbst wenn es um den Versuch der gerade Jungen geht, sich von diesem zu entfernen, neue Wege einzuschlagen in einer globalisierten Gesellschaft.
"Heimat? Ich habe keine Heimat mehr!" So rezitiert Martin Landau alias Dracula-Darsteller Bela Lugosi einen Monolog eines Drehbuchs von Ed Wood (Johnny Depp) im gleichnamigen Film von Tim Burton. Lugosi fällt diese Textpassage mehr als leicht, denn versinnbildlicht sie sein eigenes Lebensgefühl, das ihn entfremdet, fast hüllenlos und einsam dahin vegetieren lässt. Der aus Ungarn stammende Schauspieler hat schon längst seinen Zenit überschritten, sein Zuhause, LA ist ihm ebenso fremd wie er selbst den dort lebenden Menschen. Morphiumsüchtig, ohne Freunde, von seiner Frau verlassen, altert der ehemalige Horrorfilmstar langsam vor sich hin, hat sich in seiner Dracula-Rolle verloren, und lebt diese zweite, mediale Identität so stark, dass er in ganzem Kostüm bei Bestattern in Särgen Probe liegt, ganz im Stile seiner wohl größten Rolle des Grafen Dracula. Dort wird er auch erstmals von Ed Wood entdeckt, der ihn für seine schrillen B-Movies engagiert und sich zudem eine intensive Freundschaft zwischen den beiden entwickelt, fast wie die zwischen Vater und Sohn.
Es entsteht der Eindruck, dass für Lugosi nur seine Präsenz auf der Leinwand die einzig wahre Heimat für ihn ist, ohne sie ist er seiner Identität beraubt, ein leerer Körper ohne Bedeutung. Und so sackt der Mann hinter seinen Rollen nach dem Fallen der Schlussklappe stets aufs Neue in sich zusammen, flüchtet sich in drogeninduzierte Parallelwelten, die ihn fast in den Wahnsinn treiben, bis er verzweifelt und geschunden diese Welt verlässt in das so sehnlichst erwartete Jenseits, mit dem er schon stets durch seine Filmfiguren verbunden war.
Wie sehr doch der Film seine Heimat war, wird nochmals verstärkt für sehr persönliche Filmaufnahmen, die Ed Wood von ihm beim Verlassen seines Hauses machte und die er sich nach dessen Tod wieder und wieder ansieht, bis dahin, dass er die Aufnahmen in einem seiner bekanntesten Filme "Plan 9 From Outerspace" einbaute. Heimat aus der Konserve eben. Nicht grundlos hat das Nachkriegsdeutschland eine Fülle unterschiedlichster Heimatfilme herausgebracht: "Im weißen Rößl", "Die Fischerin vom Bodensee" oder "Und ewig singen die Wälder" - alleine die Titel sprechen Bände der räumlichen Verbundenheit, der Sehnsucht der Menschen nach einem neuen, aber dennoch traditionellen Heimatgefühl nach all den Kriegsgräuel, die noch längst nicht alle verarbeitet waren.
Zeigt man jene Filme heute einem jungen Publikum, wie kann man es ihnen verübeln, wenn sie diese als kitschig, lahm oder als "out" abtun? Und doch wird man ihnen sicherlich ein "So war das früher!" abringen können, ein klares Indiz dafür, dass hier eine Vorstellung keimt, was die Heimat für die vorderen Generationen bedeutet und gleichermaßen der Drang, sich hiervon abzugrenzen, selbst zum eigenen Heimatverständnis beizutragen.
Und welches Fazit kann nun zum Heimatbegriff gezogen werden? So stellt Renate Zöller in Was ist eigentlich Heimat? fest: "Heimat ist ein Gefühl, das man mit anderen Menschen teilen muss. Heimat sind vor allem die Menschen, mit denen man sich identifiziert, mit denen man Sprache, Mentalität, Vergangenheit oder Zukunftspläne teilt" (S. 222). Ob nun also Heimat oder Wahlheimat: letztlich muss jeder Einzelne für sich entscheiden, wie wichtig ihm oder ihr die eigene Heimat ist. Doch zumindest spannend sollte die Beantwortung jener selbstgestellten Frage allemal sein!
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