Auf der Suche nach dem Heiligen Gral: Warum "Toni Erdmann" das deutsche Kino retten könnte

Das Interesse des Publikums an Toni Erdmann am gestrigen Montagabend in der Karlsruher SCHAUBURG war groß, denn wurde die Sensation der diesjährigen Filmfestspiele in Cannes in Anwesenheit der Regisseurin Maren Ade präsentiert. Ein Heimspiel für die gebürtige Karlsruherin, die indes schon lange in Berlin lebt und von dort aus mit filigraner, mühsamer Perfektion ihre Filmstoffe erarbeitet und umsetzt. 

 

Allein die Präsenz der vielen Kulturschaffenden und Leitern großer Karlsruher Kultureinrichtungen, zum Beispiel dem Intendanten des Badisches Staatstheaters, Peter Spuhler, oder ZKM-Chef Prof. Peter Weibel, zeitigt dem öffentlichen Erfolg des Films ihren Tribut. Endlich wieder einmal seit langem steht ein deutscher Film, von einer weiblichen Filmemacherin zumal, in der internationalen Aufmerksamkeit und so ist man natürlich auch in Karlsruhe mächtig stolz auf "unsere" Maren. So merkt man die Sehnsucht - damit aber auch die Verzweiflung der deutschen Filmbranche - den Anschluss an das internationale Filmgeschäft zu suchen und zu finden. Eine Gralssuche, die nur allzu oft eingefordert wird und, um in dieser Metapher zu bleiben, schon viele Ritter erfolglos in die Fremde geschickt hat. Eine Heilsgeschichte mit noch offenem Ende.

Hier macht und machte Deutschland schon lange eine sehr klägliche Figur, was aber sicherlich in erster Linie daran liegt, dass hierzulande kaum für die große Kinoleinwand produziert wird, sondern mit großen Sendern wie Arte, SWR oder dem WDR nur Kleinprodukte für den heimischen TV-Screen entstehen. Jenen Filmen ist oftmals das Schicksal beschieden, ihre Premieren auf einem Filmfestival wie der Berlinale, dem Festival des deutschen Films oder beim Fernsehfilmfestival in Baden-Baden zu feiern, bevor sie es ins Abendprogramm der Öffentlich-rechtlichen verschlägt. Die privaten Sender - obwohl sie dies budgetär problemlos könnten - fassen große Kinofilme nicht einmal mehr mit der Pinzette an, denn das Risiko erscheint diesen zu groß, sich gegen die internationale Konkurrenz behaupten zu können. Größere Hoffnung kann man da in neue Streamingdienste wie Amazon Prime oder Netflix setzen, die hier deutlich mehr Geld und Risiko in die Hand nehmen.

 

Man bemerkt die Unterschiede einer TV- zu einer Kino-Produktion leider viel zu schnell, in der monotypischen Bildkomposition, dem eindimensionalen Spiel der Schauspieler im hektischen, oftmals nur drei- bis vierwöchigen Drehprozess, und der Dünnheit der Storyline. Und gerade das Publikum in großen Kino-Nationen wie den USA, Frankreich oder UK wäre hier sehr ungnädig, würde eine solche Produktion meiden!

 

Eines ist somit "Toni Erdmann" hoch anzurechnen: er hat bewiesen, dass eine deutsche Produktion auch heute noch international funktionieren kann, selbst mit einem so schwierigen und anspruchsvollen Thema wie dem gewählten. Und auch die 162 Minuten Laufzeit ist eine sportliche Herausforderung für so manches Sitzfleisch, was für Kinobetreiber gleichermaßen bedeutet, täglich deutlich weniger Vorführungen anbieten zu können, als dies bei einem klassischen 90-Minüter der Fall ist. Hier darf man auf die schon angekündigt deutlich kürzere TV-Fassung gespannt sein, die sicherlich Einiges an Schärfe und Tiefe heraus nehmen dürfte und nur gehofft werden darf, dass die filmische Botschaft auch hier so eindrücklich erhalten bleibt.

Maren Ade mit Eva Löbau, Script-Consultant bei "Toni Erdmann" in der Schauburg.
Maren Ade mit Eva Löbau, Script-Consultant bei "Toni Erdmann".

Im Kino jedenfalls überzeugt der Film in seiner narrativen Gewalt, lebt aber von der uneingeschränkten Dominanz seiner beiden Hauptfiguren, ein Markenzeichen Maren Ades, die die Welt um ihre Protagonisten bei "Alle anderen" (2009) oder ihrem Erstlingswerk "Der Wald vor lauter Bäumen" (2003) in die Bedeutungslosigkeit verbannt. Die Dichotomie zwischen "Wir" und "Die Welt da draußen" wird zum dominanten Faktor eines Kammerspiels, das ein feines Gespür für Rollen, Handlungsmuster und Dramaturgie einfordert. Maren Ade lässt sich Zeit für ihre Filme, denn die Entwicklung einer brillanten Geschichte ist ihre oberste Prämisse. Zwei Jahre hat sie am Drehbuch gefeilt, bis sie sich an dessen Verfilmung gewagt hat. So sind die Arbeits-Zyklen, in denen ein neuer Film entsteht, entsprechend lang, der Erfolg ihrer Produktionen gibt ihr jedesmal für diese Entscheidung recht.

 

Im Weltvertrieb von The Match Factory ist der Film bereits in 100 Länder verkauft, auf deutschem Parkett hat er bereits am Startwochenende 80.000 Menschen erreicht, so ist "Toni Erdmann" auch auf dem besten Wege, ein Erfolg an der Kinokasse zu werden. Gut, verglichen mit einem Hollywood-Blockbuster, der am Startwochenende locker das 100-fache einfährt, natürlich mit einer ganz anderen Marketingmaschinerie im Rücken, als dies bei kleineren Produktionen der Fall ist. Diesen bleibt einzig die Chance auf die Platzierung auf den großen A-Festivals weltweit (Cannes darf hier gerne als Ritterschlag gesehen werden!) und dem Gewinn begehrter Filmpreise, um ins internationale Interesse zu rücken. Erinnern wir uns an den Erfolg von "Das Leben der anderen" von Florian Henckel von Donnersmarck, aus dem Jahr 2006, der, gekrönt mit dem Oscar und zahlreicher weiterer Preise an den Kinokassen immerhin stolze 19,1 Millionen US-Dollar einfuhr und dem Regisseur das Tor zu Hollywood öffnete. Wann gab es seitdem eine vergleichbare deutsche Produktion für das internationale Parkett?

Wenn der Vater mit der Tochter...

 

Toni Erdmann" ist ein klassisches deutsches Drama, das sich in seiner Texturierung hinter dem vermeintlichen Komödien-Genre versteckt. Nichts mehr und nichts weniger. Selbst dem Etikett "Tragikomödie" hielte er nicht stand, definiert sich das Genre doch aus der dramaturgischen Struktur der Handlung heraus und die ist eben als Drama geartet, sodass es verwundert, dass der Film als "Komödie" beworben wird, "die beste 162-Minütige" wohlgemerkt. Komödien funktionieren eben besser an der Kinokasse als Dramen.

 

"Aber im Film wird doch die ganze Zeit gelacht!" (in der Pressevorführung in Cannes gab es sogar Szenenapplaus!) möchte der aufmerksame Beobachter nun entgegnen und dem wäre wiederum nichts entgegen zu setzen. Die Absurdität und Skurrilität so manchen Handlungsstrangs erfordert es, den humorvollen Pathos des Films als dominantes Element wahrzunehmen. Doch ist dies oftmals Galgenhumor, man lacht ob der Tragik  der Ereignisse. "I am just joking!" meint Toni Erdmann nicht nur einmal, um seinen Gegenparts zu erklären, dass das, was er da gerade von sich gegeben hat, eine Lüge war, eine Phantasiewelt, in die er bravourös sich und seine direkte Umwelt herein zieht. Ein Possenspiel, dass nicht nur der Zuschauer augenblicklich durchschaut. Das ist aus filmhistorischer Sicht doch sehr ungewöhnlich, da cineastische Scharaden bisher überwiegend erst am Ende des Films aufgeklärt wurden.

 

Maren Ade verrät, dass die Genreausrichtung auch erst am Schneidetisch erfolgte und erst hier die zahlreichen Facetten, Nuancierungen und Pointierungen heraus gearbeitet wurden, die den Film tragen. Diese Ambivalenz hat "Toni Erdmann" mit seiner väterlichen Hauptfigur Winfried (Peter Simonischek) gemein, die zwischen dem tatsächlichen Papa und dessen alter Ego oszilliert. Den FIlm als Komödie zu bewerben, ist vielleicht zu viel des Guten, denn diese Verpackung täuscht in all der Tragödie von Tochter Ines' (Sandra Hüller) Alltag. Verbissen kämpft sie sich durch den Männer dominierten Berufsalltag einer Wirtschaftsberater-Firma, die in Rumänien als nächste Sprosse der Karriereleiter eine Firma ausschlanken muss, um die nächste zu erklimmen. Dies macht sich bemerkbar in einer verbitterten, verbissenen Gesichtsmimik, aus der sie nur in sehr geheimen Momenten ein paar traurige Tränen presst.

 

Ihr Vater, der sie nach dem Tod seines Hundes in Bukarest besucht, beobachtet zunächst schweigend, wie sie sich für den potenziellen Erfolg von ihren Kunden und Kollegen dominieren und ausbeuten lässt, und sich nicht einmal eine ruhige Minute mit ihrem Vater in einem SPA gönnt, nur um der russischen Frau ihres Auftraggebers als Fremdenführerin Einkaufstipps zu geben. Für Frauensachen ist sie eben gerade einmal gut genug! "Bist Du ein Mensch?" platzt es da nach einem weiteren emotional tristen Tag in der neuen Bukarester Shopping Mal hervor, sie nimmt diese Kritik schweigend entgegen, aber unverhallt bleibt der Vorwurf dennoch nicht. Ihre Verzweiflung entlädt sich, als ihr Vater nach seinem Kurzaufenthalt nach Deutschland verabschiedet und sie ihm vom Balkon ihres Appartements wie ein kleines Mädchen nachwinkt: da kullern die Tränen!

 

Knapp die Hälfte des Films ist herum, als dann letztlich der Titelheld Toni Erdmann im Leben seiner Tochter auftaucht und dieses umkrempelt. Mit schiefem Gebiss - es handelt sich um eine Attrappe aus einem Scherzartikelladen, "Modell Chefkoch", - und Perücke, gibt er sich gegenüber ihrer Freundinnen und Arbeitskollegen als Consultant und Coach aus, manchesmal an anderer Stelle auch als Deutscher Botschafter. Peter Simonischek spielt dies verschmitzt, verspielt, schelmenhaft und mit einer Leichtigkeit, die dem Zuschauer unweigerlich ein Schmunzeln entlockt. Und stets fragt man sich, was Winfried alias Toni Erdmann da bezwecken möchte mit seiner Posse?

 

Während sich die Tochter von der rumänischen Wirklichkeit abschottet, in der nach wie vor Armut dominiert, die von westlichen Großkonzernen ausgenutzt wird und auf dem Rücken der Arbeiter ausgetragen wird, die zudem wegrationalisiert werden sollen, so wirft sich Toni Erdmann in das reale Leben, erfährt in seiner doch recht kurzen Verweildauer mehr Einblicke in die Leben der Einheimischen, als dies der Tochter in ihrem kleinen Business-Universum, hinter den Mauern der Wirtschaftsberatung, des 5 Sterne-Hotels mit SPA oder in den Edelclubs, nur im Ansatz möglich erscheint . Nur einmal, nach erfolgreicher Präsentation, erhascht sie den Blick auf einen ärmlichen Hinterhof, bei dem ihr der wahre Alltag bewusst werden könnte, wäre ihre Fassade als Wirtschaftsberaterin nicht so verhärtet.

 

Im Laufe des Films mutiert Toni Erdmann immer mehr zur Überfigur, bis aus seiner schlecht sitzenden Perücke er am Ende des Films in einem traditionellen bulgarischen Kostüm nur noch quasi eine "Ganzkörper-Perücke" darstellt, die Metamorphose in die selbst gestaltete Rolle vollzogen ist. So trifft er bei der inszenierten Geburtstagsparty seiner Tochter, die nicht mehr als eine teambildende Maßnahme darstellen soll, auf seinen völlig entkleideten Nachwuchs, der sich in dieser Nacktheit selbst demaskiert und somit seine statische Rolle der professionellen, emotionslosen Wirtschaftsberaterin aufgegeben hat. Ob sich dieses Handeln ohne das Indiz eines Nervenzusammenbruchs erklären lässt oder nur erkenntnistreibenden, funktionalen Symbolcharakter für die Konklusion der Filmhandlung hat, sei einmal dahin gestellt.

 

Am Ende ist zumindest alles wieder in ein ruhigeres Fahrwasser gelenkt und Ines merkt, dass sie letztlich doch Vaters Kind ist. Der Vater-Tochter-Konflikt ist gelöst und auch ihre Einstellung zum Sinn des Lebens.  "Ob der Film autobiografische Züge enthält?", will am Ende dann doch noch ein Zuschauer wissen. "Ich finde mich in jeder Figur wieder", meint Ade. "Und in meiner Familie werden viele Konflikte mit Humor gelöst!". Eine schöne Botschaft, die man auch nach "Toni Erdmann" mit nach Hause nehmen darf. Humor verbindet, egal, wo man sich befindet auf der Welt!

 

 "Toni Erdmann" läuft in der SCHAUBURG und natürlich auch auf den OpenAir Kino-Nächten im Schloss Gottesaue am Samstag, 20. August 2016.

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