Es ist ein wunderschöner, vorsommerlicher Spätnachmittag, dieser Mittwoch, 22. Mai 2019, einen Tag vor dem runden Geburtstag der deutschen Verfassung, dem Grundgesetz. Man merkt, wenn man sich dem Bundesverfassungsgericht im Schlossbezirk nähert, dass heute ein ganz besonderer Tag ist. Das Polizeiaufgebot ist größer als sonst, wird heute doch hoher Besuch erwartet, der zu einem entsprechend hohen Andrang sorgt für das 19. Karlsruher Verfassungsgespräch – veranstaltet von der Stadt Karlsruhe unter der Schirmherrschaft des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Im Eingangsbereich drängen sich die Ehrengäste und Besucherinnen und Besucher, darunter viele Bundestags- und Landtagsabgeordnete, aber auch die Stadtpolitik, namhafte Vertreterinnen und Vertreter aus Wirtschaft, Kultur, Religion und Sozialem sind gekommen zu diesem ganz besonderen Verfassungsgespräch, das unter die Frage "70 Jahre Grundgesetz – Deutschland in guter Verfassung?" gestellt wurde.
Die Atmosphäre ist würdevoll, die Gäste sind sich der großen Bedeutung der Veranstaltung bewusst. Spürbar ist aber nicht nur der hohe Besuch aus Berlin, der heute sprechen wird, sondern auch die Anspannung hinsichtlich der mit kommendem Sonntag nahenden Europa- und für Karlsruhe nicht minder wichtige Gemeinderatswahl, deren Ausgang noch so gänzlich ungewiss erscheint. Kurze Aufregung entsteht, als klar wird, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeiers Flieger aus Berlin Verspätung hat und er nicht pünktlich um 18 Uhr sprechen können wird. Schnell wird umdisponiert und das Verfassungsgespräch an den Anfang gestellt. So begeben sich die Gäste in den Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts, an dessen hinterer Wand, direkt über der Richterbank, der von Hans Kindermann gestaltete Bundesadler mächtig und ruhig über das Geschehen wacht.
Pünktlich übernimmt Journalist und Fernsehmoderator Jörg Schönenborn die Regie, denn wird das Gespräch über den Youtube-Kanal von Phoenix live gestreamt. Das Podium ist hochkarätig besetzt, darunter der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Dr. h. c. Andreas Voßkuhle, die Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Angelika Nußberger, die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin Prof. Dr. h. c. Jutta Allmendinger, Ph.D. sowie Bundesminister a.D. Dr. Thomas de Maizière MdB und Dr. Gregor Gysi MdB. Doch zuvor begrüßt Karlsruhes Oberbürgermeister Dr. Frank Mentrup in der Residenz des Rechts und gibt einen Ausblick auf die nächsten Tage, in denen das VerfassungsFEST mit vielfältigen Veranstaltungsformaten gefeiert wird.
Viele Brandherde in Europa bedrohen die Freiheit
Schönenborn stellt gleich zu Beginn fest, dass immerhin 88 Prozent der Deutschen glauben, dass sich das Grundgesetz gut bewährt habe. Allerdings seien auch gleichzeitig ein Drittel der Mentschen unzufrieden mit der Demokratie hierzulande, kein reines deutsches Phänomen, blicke man in Richtung der zahlreichen Konflikte in vielen anderen europäischen Ländern: der Brexit, die Gelbwesten in Frankreich, die antidemokratischen Entwicklungen in Ungarn oder Polen, in denen zum Beispiel die Medienvielfalt und Pressefreiheit durch rechte Regierungen stark eingeschränkt werden.
Eine Verfassung müsse stabil sein und Vielfalt garantieren, dabei müsse ein System aber auch atmen können, betont Voßkuhle. Dabei bemerkt de Maizière, dass schon jetzt das Grundgesetz mit Ergänzungsartikeln von 146 auf 196 Artikel angewachsen sei, was aber nicht unbedingt eine Verbesserung darstelle, wofür er nickende Affirmation erhält. Jutta Allmendinger bedient sich der Statistik, aus der sie steigende Obdachlosenzahlen, ein signifikanter Gender Pay Gap und eine mangelhafte Lehrerausbildung abliest, um zu vermitteln wie vieles in Deutschland im Argen liege.
Eine Politik der alten weißen Männer?
Hier bemängelt sie besonders stark, von wem heute nach wie vor Bundespolitik betrieben werde: Juristen, Ökonomen, Akademiker. Stattdessen wünsche sich Allmendinger mehr Frauen – derzeit gibt es nur 30 Prozent weibliche Bundestagsabgeordnete, aber auch Handwerker, sozial Benachteiligte oder Menschen mit Migrationshintergrund. "Fordern Sie eine Zusammensetzung im Bundestag, die die deutsche Gesellschaft repräsentativ wiederspiegelt?", Thomas de Maizière klingt sichtlich gereizt.
An dieser Stelle versucht Voßkuhle zu beschwichtigen: man müsse hinterfragen, was politisch sinnvoll sei und was in die Verfassung geschrieben werden solle. Ein großes Defizit sieht hier Gregor Gysi bei den sozialen Rechten vieler Menschen, die beispielsweise im Niedriglohnsektor arbeiten müssten oder sich in einer Scheinselbständigkeit befänden. Auch sei Wohnen heute ein viel größeres Problem als vor zehn bis 15 Jahren, zudem verändere die digitale Revolution ebenfalls unsere Arbeitswelt, aber auch unsere Gesellschaft insgesamt, massiv.
Welche Funktion hierbei die Verfassung habe, beantwortet Angelika Nußberger. Diese habe sich über die letzten 70 Jahre kontinuierlich entwickelt und überzeuge durch ihre Schönheit und Schlichtheit. Allerdings bemerkt sie an späterer Stelle, dass sie auf europäischer Ebene besonders zwei Vermittlungsprobleme habe: zum einen stößt sie häufig auf Unverständnis bezüglich des föderativen Systems in Deutschland, zum anderen das Verhältnis von Staat und Kirche.
Wenn der Vater mit dem Sohne...
Wie funktional muss der deutsche Föderalismus sein, frägt Schönenborn, rudert bei seiner erst überspitzt formulierten Frage zurück auf die Metapher, dass der Föderalismus ein Zimmer sei, das immer wieder umgebaut werden muss. Dies unterstreicht Voßkuhle mit der Bemerkung, dass der Föderalismus nicht in bester Verfassung sei, durch die Idee der dezentralen Organisation des Staates aber auch eine größere Vielfalt ermöglicht würde, was aber auch mit einem größeren Finanzbedarf der Länder einhergehe.
Wie problematisch dieses System in verschiedenen Bereichen wäre, macht Allmendinger am Bildungssystem deutlich: hier werde zwar viel experimentiert, am Ende raus käme leider nichts. Hier stimmt ihr de Maizière immerhin insofern zu, alsdass er meint, dass es viel mehr verbindlicher Standards bedürfe, zum Beispiel mit Blick auf die Abschlüsse.
Hier krätscht Gregor Gysi dazwischen, der einfordert, dass alle Kinder gleichen Zugang zu Bildung, Kunst und Kultur erhalten müssten, bedient sich bei der Beschreibung der Schwächen des föderativen Systems in altbekannter, wortgewandter Manier einer einleuchtenden Metapher: "Wenn ich Rad fahre, kann ich Autofahrer nicht leiden, wenn ich Auto fahre ist es umgekehrt. So ist es in der Politik: als Bundespolitiker stört mich die Landespolitik, als Landespolitiker die Bundespolitik." Wie recht er mit dieser Aussage hat, zeigt dann auch ein kurzer Schlagabtausch mit Vertretern der baden-württembergischen Landes- mit denen der Bundespolitik auf dem Podium.
Was bleibt von diesem Gespräch? Thomas de Maizière stellt fest, dass das Grundgesetz institutionell stark aufgestellt sei. Voßkuhle ergänzt, dass es in einer komplexen Welt nicht immer einfache Lösungen gäbe und Angelika Nußberger verweist noch auf die Frage, wie mit dem Grundgesetz mit Blick auf Europa weiter umgegangen werden sollte. Damit schließt Schönenborn die Diskussion und die Festrede des mittlerweile eingetroffenen Bundespräsidenten kann beginnen.
Das Grundgesetz als Ruhepol
Als "das liebste Buch der Deutschen" bezeichnet Frank-Walter Steinmeier, der mittlerweile eingetroffen ist, das Grundgesetz, das in vielen Schubladen, Bücherregalen oder auf Schreibtischen schlummere, mal mehr, mal weniger zerfleddert gelesen. Er betonte den Freiheitsgeist des Grundgesetzes, sodass wir diesen Schatz heute stärker verteidigen müssten als eh und je. Die Verfassung sei aber eine Erfolgsgeschichte, die Steinmeier historisch skizziert. Das Wirtschaftswunder, die Westbindung, die Bemühungen, aus dem kalten Krieg keinen heißen Krieg werden zu lassen, die Wende: eine Verfassung solle hierbei eine Art Ruhepol sein, müsse aber auch offen sein, und diese große integrative Kraft habe sich insbesondere bei der Wiedervereinigung gezeigt.
Das Grundgesetz, also ein Eckpfeiler unserer Demokratie, für unsere Freiheit und eine Vergewisserung, dass wir allesamt vor dem Gesetz gleich sind!